Seit einigen Wochen ist dem Vormarsch der Taliban-Kämpfer nicht mehr entgegen zu kommen. Die NATO-Soldaten sind bis auf die letzten strategischen Planer und einige Luftmaschinen alle aus dem Lande abgezogen. Vor rund einem Monat bereits fing eine große Welle der Flüchtlinge aus Afghanistan an, nach Westen zu flüchten. Die Taliban erobert täglich neue Gebiete und verwüstet Dörfer sowie tötet unschuldige Menschen und Soldaten der afghanischen Nationalarmee. Aktuell steht nach lokalen Einschätzungen rund 70% des Landes unter der Kontrolle der Taliban. Was wir vor einiger Zeit mit dem Beitrag “Warum der Afghanistanabzug ein Genickbruch sei?” vorhersagten, dass eine Stellung für Taliban wie vor 40 Jahren zustande kommen würde, geschieht im vollen Gange. Soweit die aktuelle Lage in der Region….
Was jedoch in diesem Spiel in einem unmittelbaren Zusammenhang gesehen werden muss, ist der Abzug der Nato-Truppen, der Vormarsch der Taliban und ein verheerendener Beginn der Flüchtlingswellen. Unsere zweite Prognose neben der Verwicklung der chinesischen Regierung in das zentralasiatische Geschehen, war die Rolle Anatoliens auf dem Afghanistan-Schachbrett.
Anatolien kämpft seit mehr als ein Jahrzehnt bereits mit den unkontrollierten Fluchtwellen aus dem Nahen Osten, hierbei im Wesentlichen aus Syrien, Irak, Libanon oder Iran. Die Afghanistan-Doktrin für Anatolien bedeutet heute noch mehr Flüchtlinge aus dem Ausland, die das südöstliche Tor der Türkei anzielen. Die höchste Anzahl an afghanischen Flüchtlingen hatte das Jahr 2019 mit rund 250.000 Afghanen zu tragen. Weit über 50.000 wurden als illegal eingestuft, die sich auf unkontrollierter Weise ins Land verbrachten. In diesem Jahr bis Juli kamen rund 30.000 Afghanen in die Türkei. Bis Ende des Jahres und mit dem weiteren Vormarsch der Taliban wird diese Zahl sich mindestens verdreifachen. Selbst der benachbarte Iran hat in den letzten fünf Jahren rund 400.000 Afghanen aufgenommen und viele erneut nach Afghanistan abgeschoben oder weiter nach Westen über die Türkei durchgelassen. Die Lage ist soweit akut und wird sich weiterhin in die allgemeine Verschlechterung in der türkischen Gesellschaft schleppen. Verschlechterung in Folge dieser existenziellen Umstände:
- Die Flüchtlinge, die sich in die Türkei verbringen, bestehen in einer durchschnittlichen Gruppe von 10 Mann, aus 6 jungen Männern zwischen 16-35, zwei minderjährigen Kindern, wobei die Minderjährigkeit hier bewusst bis zum 16. Lebensjahr registriert wird und zwei Elternteilen. Die Sorge um die durchschnittlichen vier Personen dieser Gruppe bereitet weniger Belang, als die um die restlichen sechs Personen der Gruppe. Die jungen Männer zwischen 16 und 35 Jahren, haben einen durchschnittlichen Abschluss eines Schulkindes, welches bis zur 7. Klasse einer deutschen Hauptschule unterrichtet wurde. Fast alle sind religiösen Umständen verdankend, unterschiedlichen muslimischen Ansichten gehörig. Die Schwierigkeit, mit der unter anderem Deutschland kämpft, solche Personengruppen ins westliche Gesellschaftskonstrukt zu integrieren wird nicht minder auch die türkischen Behörden ereilen, wenn selbst diese in ein muslimisches Gesellschaftsbild einzurahmen versucht werden soll. Bereits heute entstehen langsam afghanische und syrische Gruppierungen in den großen Städten der Türkei, die unkontrolliert ihren Traditionen nach ihre Handlungsweisen ausbauen, die eine höhere Kriminalitätsrate mit sich bringen wird.
- Der Arbeitsmarkt der Türkei und somit die Wirtschaft, die die einheimische Bevölkerung betrifft, wird ungemein gestört. Wenn ein Türke heute für 200 TL (turkische Lira) seine bis dahin für rund 500 TL entlohnte Arbeit beim Bäcker einem Afghanen abtreten muss, wird die Kluft im türkischen Arbeitsmarkt weit überdehnt. Dies wird zu den unschönen Momenten in der türkischen Gesellschaft führen, die aktuell sowieso einer starken Belastung unterliegt.
- Afghanistan (Iran und Pakistan genauso) war seinerseits ein sehr modernes Land, wo sowohl Frauenrechte als auch geschlechtsspezifischen Merkmale auf einer lockeren Art behandelt wurden. Seit den 80er Jahren gibt es in der gesellschaftlichen Mentalität in Afghanistan eine sexuelle “Tabu-Revolution”, die, gestützt auf islamische Grundpfeiler, verheerende psychologische Probleme bei den Männern verursachte. Sexuelle Themen oder diese betreffende Analysen wurden vollständig aus den Medien, öffentlichen Gesprächen verbannt. Die Verschleierung der Frauen förderte diese Isolation der Männer noch mehr und führte zu einer inneren Verbotszone, die sich bis in die ethischen und moralischen Grundsätze der Geschlechtsbestimmungen hineinfraß. Auch die jungen Männer, die mit den Flüchtlingswellen nach Westen umherziehen, bekamen fast keine sexuellen Aufklärungen mit, geschweige denn Erfahrungen. Die ersten “freizügigen” Frauen sehen sie entweder auf ihren VPN-konfigurierten Smartphones oder unmittelbarer in der modernen Türkei. Aus psychoanalytischer Sicht nach Freud (“Totem und Tabu”) erleiden deshalb diese jungen Männer eine sogenannte “sexuelle Schockstarre”, die in einer Zwangsneurose zusammenzufassen ist. Zur Befriedigung ihrer Triebe greifen sie entweder zu Vergewaltigungen oder kleinen sexuellen Übergriffen gegenüber Frauen, selten zu gravierenden Schädigungsdelikten. (Hierbei gibt es eine interessante Statistik von unterschiedlichen Agenturen, die die Pornografie in den muslimischen Staaten aufstellt. Afghanistan ist nicht dabei, da die meisten pornografischen Begriffe und Seiten unmittelbar aus dem Datennetz gelöscht werden). Bedenkt man noch, dass die Türkei diese Themen auch partiell mit Schweigen entgegennimmt und einige wenige religiöse Gruppierungen die Schuld bei solchen Taten eher in der traktierten freizügigen Art der Frauen sehen, könnte es in der nächsten Zeit zu einer massiven Einschränkung der Frauenrechte im anatolischen Gebiet kommen.
Es sind drei große Themen, mit denen die Türkei in naher Zukunft umgehen muss. Ein weiterer Umstand ist ein geopolitischer. Wir wissen, dass auch Syrer in der Türkei, aus einer nicht kleinen Masse von Flüchtlingen bestehen. Auch mit den Syrern erlebte die Türkei die oben aufgeführten Probleme, die nicht gelöst werden konnten. Dazu kommen nun weitere Wellen, die die Lösungsansätze noch schwieriger gestalten würden. Ein wesentlicher Unterschied jedoch zwischen Syrien und Afghanistan ist, dass die Türkei sich militärisch in die syrische Frage einmischen konnte, weil es ein unmittelbares Grenzgebiet sei. Sie versuchte richtigerweise die Wellen nicht innerhalb der Grenzen, sondern unmittelbar vor Ort zu stoppen, indem Nordsyrien bis heute immer noch unter Kontrolle gebracht werden konnte, wo den Flüchtlingen unmittelbar vor Ort Hilfe geleistet wird. Dadurch schwächten sich die Flüchtlingswellen aus Syrien und Irak enorm. Diesen Weg wird Ankara jedoch mit den Afghanen nicht gehen können. Afghanistan liegt rund 3.500 km von der Türkei entfernt. Damit solch eine Strategie à la Syrien verwirklicht werden kann, müssen die türkischen Soldaten nach Afghanistan und dort eine sichere Zone bilden, um die Flüchtlinge vor Ort zu erreichen. Dieses Konzept liegt zwar zu dieser Sekunde auf dem Schreibtisch von Erdogan, jedoch ist dieser Schritt mit großen geopolitischen Folgen verbunden. Erst zum Ende des Jahres war es beabsichtigt, den Kabuler Flughafen der Kontrolle Ankaras zu übergeben. Ein solches früheres Szenario war nicht gedacht. Denn Ankara kämpft an seinen umliegenden Grenzgebieten auch in Afrika, Osteuropa, Karabakh und aktuell sogar mit den Naturkatastrophen wie Feuer und Überschwemmungen. Die Ausdehnung der militärischen Kapazitäten auf afghanische Grenzen muss deshalb mit sehr scharfen Folgen durchdacht werden. Würden die Prognosen darauf bestehen, dass in den kommenden Wochen eine unvorstellbar große Anzahl an afghanischen Flüchtlingen nach Westen durchdringen, wird der Entscheidungsspielraum, ohne militärische Intervention in Afghanistan auszukommen, gegen Null reduziert. Unsere Prognose, die Überlastung des anatolischen Militärs zu erzwingen, erreicht mit dieser Analyse noch einen weiteren Schritt. Syrien, Irak, Sudan, Kosovo, Karabakh und bald Afghanistan. Auch wenn militärisch Ankara dieses Bild stemmen könnte, wird es auf Dauer in unerlässliche Verluste an allen Fronten münden. Und Peking beobachtet all diese Szenen natürlich mit großem euphorischem Willen und hungriger Expansionsabsicht.
Warum nun Afghanistan allein gelassen wird, ist aus dieser Perspektive möglicherweise besser nachzuvollziehen als sich auf die Sinnlosigkeit eines 40-jährigen Stellvertreterkrieges abzustellen.
p.s. In der letzten einen Woche sind nach afghanischen Grenzbehörden rund 35.000 Menschen aus Afghanistan geflohen. Jede Woche erhöht sich leider diese Zahl.
TT
cenk
at 19:11
es wäre super wenn diese texte als Hörbuch mp3 ..zur Verfügung gestellt werden
Einfach vorgelesen genügt.
Babek
at 20:11
Hallo Cenk. Danke für deine Nachricht. Ich notiere mir das.